60 Bewerbungen, 20 Interviews und unzählige weitere Gespräche: Ein Jahr Jobsuche bringt vieles mit sich. Selbstbewusstsein ist es nicht.
Dabei habe ich einen guten Lebenslauf. 10 Jahre Berufserfahrung im Bereich Online-Marketing und Kommunikation, bekannte Unternehmen mit guten Referenzen, weitere 8 Jahre Erfahrung aus privaten Projekten. Mit elf Jahren habe ich mir selbst das Programmieren beigebracht, mit vierzehn hatte ich meinen ersten bezahlten Auftrag. Das sollte doch eigentlich reichen. Dachte ich.
Wer etwas gut kann, wird auch gesehen, hat man mir schliesslich gesagt. Mit mehr Erfahrung kommt auch mehr Anerkennung. Eine Lüge, der ich lange geglaubt habe. Sie klingt gut, fair. Doch bleibt sie dabei nur ein Wunschtraum von einer Welt, die für uns alle gleich funktioniert. Denn das tut sie nicht.
Das Problem am Sexismus ist: Er ist leise. Wir sind es so gewohnt, übergangen zu werden, dass wir es nicht einmal mehr merken. Stattdessen nehmen wir den Mist, der uns täglich zugeworfen wird, an. Das ist jetzt mein Problem, sagen wir.
Ist es das?
Auch ich habe es getan. Den Mist angenommen und ihm einen Platz in meinem Kopf eingerichtet. Schliesslich sollte er sich wohlfühlen. Das hat er auch getan. Und letztendlich sass ich hier, mit meiner Berufserfahrung, meinen Fähigkeiten, meinen Empfehlungen und fragte mich, ob ich überhaupt jemals kompetent genug war. Vielleicht war ich gar kein Profi. Vielleicht tat ich nur so. Vielleicht hatten sie alle recht und ich konnte wirklich nichts gut genug.
Diesem Glauben zu verfallen ist einfach. Wahrscheinlich ist es eine Meisterleistung, wenn man es nicht tut. Schliesslich hört man es nicht nur oft genug, sondern sieht es auch. Ich könnte ganze Listen mit Namen von hochtalentierten weiblich gelesenen Personen erstellen, die allesamt aufgegeben haben. Die sich selbst für nicht kompetent genug halten, obwohl sie absolut herausragend sind. Die andere immer eine Stufe über sich selbst stellen. Und die davon überzeugt sind, dass das alles schon seine Richtigkeit hat.
Das hat es nicht. Und dafür gibt es nur eine Lösung – nämlich den Mist als das zu identifizieren, was er ist: Eine Ausgeburt des Systems, die nichts mehr mit uns zu tun hat. Ein Virus mit einer epidemischen Reichweite, die Covid-19 bei Weitem übertrifft.
Die Identifikation hat einiges gebraucht: Zeit. Reflektion. Fragen stellen und keine Antworten finden. Einige habe ich gefunden, andere suche ich noch. Aber solange die Dinge so sind, wie sie sind, können wir zumindest eines tun: Unsere Erfahrungen teilen und Bewusstsein schaffen.
In diesem Sinne: Hier sind 6 Lektionen, die ich bei meiner Jobsuche gelernt habe.
1. Dein Aussehen spielt eine Rolle. Aber nicht so, wie du denkst.
Einer meiner absoluten Lieblingssprüche ist nach wie vor der „Wow, eine Frau, die schön UND schlau ist gleichzeitig, wie krass!“. Ich glaube sogar, ihn mal im beruflichen Umfeld gehört zu haben. Er steht stellvertretend für eine vermeintliche Entscheidung, die man als weiblich gelesene Person in der Berufswelt treffen muss: Ist man schön – oder doch lieber schlau?
Und die Art und Weise, wie gut dieses Prinzip funktioniert, ist eine Tragödie einer ganz anderen Art.
Zum ersten Mal aufgefallen ist es mir bei einem Vorstellungsgespräch vor vielen Jahren, für das mich eine Freundin in das unvorteilhafteste Outfit der Welt gesteckt hatte. Nicht weil es unpassend war, es stand mir einfach nicht. Im Gegensatz zum Gespräch: Es lief unerwartet gut, und ich habe den Job bekommen. Seitdem habe ich viel damit experimentiert und angefangen, für Vorstellungsgespräche absichtlich Dinge anzulegen, die mir besonders schlecht stehen. Ich habe auch mit dem Waschen meiner Haare absichtlich bis nach dem Gespräch gewartet, damit sie möglichst fettig, wirr und ungepflegt aussehen.
Es hat funktioniert: Je unattraktiver mein Erscheinungsbild war, desto ernster wurde ich beim Gespräch genommen. Bei Interviews, bei denen ich mich als „schön“ bezeichnet hätte, wurde mir meine Kompetenz viel eher abgesprochen.
Die Tatsache, dass ein absichtliches Sich-unattraktiv-Machen so gut funktioniert, mag lustig klingen. Doch das ist es nicht. Es verdeutlicht nur noch stärker die höchst problematische Objektifizierung von weiblich gelesenen Personen in unserer Gesellschaft und die Reichweite ihrer Wirkung.
Mein ursprünglicher Fehlgedanke: Wenn man mich nicht ernst nimmt, dann liegt es daran, dass ich falsch kommuniziere oder nicht gut genug bin.
Wie es tatsächlich ist: Menschen sind Dumpfbacken*.
Lösung: Fuck the system.
2. Gut sein ist nicht unbedingt gut.
Wie oft habe ich das schon gehört: Es ist gut, Dinge zu können. Wenn du Erfahrung hast, schreib sie auf. Ein guter Lebenslauf ist ein wertvoller Lebenslauf. Sie denken, diese Geschichte ist wahr? Leider muss ich Sie enttäuschen. Sie wurde frei erfunden.
Wenn ein weisser, hetero, cis-Mann in etwas besonders gut ist und besonders viel Erfahrung besitzt, ist er ein Überflieger. Ein Experte. Young professional. Als weiblich gelesene Person hat man einfach seine Fähigkeiten und Erfahrungen in einem Anflug von Narzissmus total übertrieben dargestellt.
Diesen Punkt habe ich lange nicht verstanden – und mich stattdessen immer gefragt, warum mir ständig diese komischen Fragen gestellt werden. Man sieht meinen Lebenslauf und fragt mich, was ich denn nun eigentlich wirklich kann. Welches von diesen Dingen denn nun tatsächlich ich bin. Einmal bekam ich nach einem Probeauftrag ein «krass, du kannst das ja wirklich» zu hören. Nein, ich mache es nur erst seit über 10 Jahren, und das steht auch in meinem Lebenslauf, aber ja, voll krass.
Mein ursprünglicher Fehlgedanke: Wenn ich in etwas gut bin, viel Erfahrung mitbringe und das nachweisen kann, werde ich ernst genommen. Wenn das nicht der Fall ist, muss ich noch nicht qualifiziert genug sein und muss noch besser werden.
Wie es tatsächlich ist: Menschen sind Dumpfbacken*.
Lösung: Fuck the system.
3. Du musst dich nicht zuerst beweisen. Das ist Müll.
Zwei meiner Kernkompetenzen, die in meinem Lebenslauf deutlich hervorstechen, sind mein technisches Verständnis und strategisches Denken. Trotzdem habe ich immer wieder in Bewerbungsgesprächen und Jobs erlebt, dass ich auf meine Kreativität reduziert werde und Dinge mache, für die ich eigentlich überqualifiziert bin.
«Das ist total normal», wurde mir gesagt. «Du musst dich in einem neuen Unternehmen halt zuerst beweisen und zeigen, dass du es wirklich kannst.» Und während das ab und an durchaus zutreffen mag, ist es in 99% aller Fälle nur eins: absoluter Blödsinn.
Einmal wurde ich davon abgehalten, einem Arbeitskollegen bei einer technisch-strategischen Sache zu unterstützen, weil das angeblich nicht mein Ding wäre. Dabei hatte ich in diesem Bereich viel mehr Berufserfahrung als der Arbeitskollege. Bei Jobinterviews wurde meine Antwort, dass analytisches Denken meine grösste Stärke sei, ignoriert, und das Gesprächsthema wurde stattdessen immer weiter in Richtung „ja, aber du bist doch in erster Linie kreativ, was anderes kann ja gar nicht sein“ gelenkt. Bewerbungen, in denen ich meine Programmiererfahrung komplett gestrichen hatte, bekamen viel eher eine Einladung zum Gespräch.
Mein ursprünglicher Fehlgedanke: Wenn man mich nicht denken lässt, sondern nur auf die „einfachen“ Dinge reduziert, dann liegt es daran, dass ich mich zuerst beweisen muss. Das nennt sich Hocharbeiten und ist total normal.
Wie es tatsächlich ist: Menschen sind Dumpfbacken*.
Lösung: Fuck the system.
4. Nein, Führungspositionen sind nicht eine Frage der Zeit
Alle Unternehmen, bei denen ich mich für eine Stelle mit einer Leitungsfunktion beworben hatte, haben mir früher oder später abgesagt. Entsprechend dem gesellschaftlichen Konsens wiederholte ich hier das, was ich zu diesem Thema gelernt hatte: Ich bin halt noch jung. Ich muss zuerst mehr Erfahrung sammeln. Kompetenter werden. Das ist zu früh, und ich erwarte einfach zu viel.
Auch hier: Blödsinn. Ein Blödsinn, der allerdings sehr glaubwürdig klingt. Uns wurde das so beigebracht – und nie revidiert. Also sass ich da und wartete. Auf das Altwerden, auf die Erfahrung, auf die Kompetenz, in der Annahme, dass das nun mal der normale Lauf der Dinge sei. Bis ich einen Blick auf meine männlichen Berufskollegen richtete: Da waren Menschen dabei, die jünger waren als ich und nicht einmal die Hälfte meiner Berufserfahrung hatten. Sie waren Teamleiter, Marketingchefs, CMOs – während ich weiterhin daran glaubte, dass ich einfach nur zu jung und zu unqualifiziert dafür bin.
Ein besonders ehrlicher Mensch gab mir hierfür die Bestätigung: Ich hatte mich auf eine Stelle mit Leitungsfunktion beworben und bekam in der letzten Runde eine Absage. Es war eine Entscheidung, die mein Gesprächspartner offensichtlich nicht begrüsste, aber nicht die Macht hatte, sie zu ändern. Er verriet mir, dass im Team besonders viele Männer arbeiten würden und man in der Geschäftsleitung nicht glaubt, dass ich «als Frau dieses Team führen könnte».
Mein ursprünglicher Fehlgedanke: Ich bin zu jung und noch zu unerfahren, um eine Stelle mit mehr Verantwortung und Leitungsfunktion zu übernehmen oder befördert zu werden.
Wie es tatsächlich ist: Menschen sind Dumpfbacken*.
Lösung: Fuck the system.
5. Wir reden keinen Blödsinn, man hört uns nur nicht zu
Ich habe bereits viele Ideen und Konzepte vor einem Publikum präsentiert – im Job bei der Kundschaft, im Team, bei Bewerbungsgesprächen. Und in gefühlt 50% aller Fälle läuft es gleich ab: Man starrt mich an wie ein Alien, das gerade eine Fremdsprache spricht und die grundlegendsten Gesetze unseres Planeten nicht verstanden hat.
Ich habe bereits viele Erklärungen für dieses Phänomen gefunden: Vielleicht ist meine Logik einfach zu ausgefallen, um verstanden zu werden. Ich war halt schon immer etwas komisch. Oder ich rede wirklich totalen Unsinn und habe einige wichtige Dinge total vergessen und nicht berücksichtigt.
Meine Jobsuche hat mir hier eine weitere Erklärung geliefert: Ich rede keinen dummen Kram. Man glaubt mir einfach nur nicht. Eine weiblich gelesene Person, die von Zahlen spricht und sachliche Analysen liefert? Verdächtig.
Bei einigen Bewerbungsgesprächen hatte ich die Freude, diese Theorie bestätigt zu bekommen: Nachdem ich als Probeauftrag einen alten, bereits gelösten Fall bearbeiten musste, wurde meine Lösung von der Chefetage skeptisch betrachtet, kritisiert und mit «das stimmt nicht» kommentiert. Bis ein mutiger Bruder aus dem damaligen Projektteam vorsichtig anmerkte, dass der Fall ursprünglich tatsächlich genau auf die von mir vorgeschlagene Art und Weise gelöst wurde und so zum Erfolg führte.
Mein ursprünglicher Fehlgedanke: Wenn man das, was ich sage, nicht ernst nimmt, dann liegt es entweder daran, dass ich wirklich Blödsinn rede oder einfach sehr schlecht kommunizieren kann.
Wie es tatsächlich ist: Menschen sind Dumpfbacken*.
Lösung: Fuck the system.
6. Schlussendlich spielt es keine Rolle.
Das Ding ist nur: Kann man es überhaupt richtig machen?
Während mir manche Unternehmen abgesagt haben, weil ich für sie nicht kreativ genug war, haben mich andere wegen zu viel Kreativität abgewiesen. Wasche ich meine Haare nicht und stelle mich dumm, bekomme ich vielleicht eine Jobzusage – nur wie glücklich werde ich damit?
Spielt es in einer misogynen Gesellschaft tatsächlich noch eine Rolle, wie gut wir darin funktionieren? Ist es nicht viel eher so, dass es für uns in einem System wie unserem gar kein Richtig geben kann? Und ist es nicht vielleicht genau deshalb eine rebellische und feministische Handlung, kompromisslos wir selbst zu sein und die jahrelang angesammelten Selbstzweifel in den Wind zu schiessen? Und wenn wir es nicht heute tun, wann dann?
„To be yourself in a world that is constantly trying to make you something else is the greatest accomplishment.“
― Ralph Waldo Emerson